Nutzen und Wert der Literatur


Wenn das Lesen von Literatur nur eine seit Jahrhunderten tradierte Form der Freizeitbeschäftigung wäre ( , wobei man erwähnen sollte, dass sich in früheren Zeiten viele Menschen Bücher gar nicht leisten konnten ), dann würde es sich erübrigen, der Literatur das Wort zu reden.
Aber schon der römische Dichter und Philosoph Horaz hat erklärt, dass gute Literatur nicht nur für gute Unterhaltung sorgt, sondern gleichzeitig von Nutzen ist. Man lernt u.a. durch sie den Menschen an sich und darüber hinaus die menschliche Gesellschaft besser kennen.
Darüber hinaus hilft sie dem Leser von Literatur auf seinem Weg des 'Erkenne dich selbst!', eine Voraussetzung, damit jeder Einzelne den genau für sich selbst richtigen und adäquaten Lebensweg findet und, was jeder ja will, sich selbstverwirklichen kann.

In der Literatur geht es immer um Menschen. Um ganz individuelle Menschen mit ihren ganz eigenen Gedanken und Gefühlen, ganz eigenen Erlebnissen und Erfahrungen. Menschen in Glück und Menschen in Not. Menschen mit unterschiedlichen Vorstellungen von Vernunft und Moral. Und während man liest, schlüpft man, ob man will oder nicht, in diese geschilderten Personen hinein. Man übernimmt im Moment des Lesens - und es scheint da einen psychischen Automatismus zu geben - die Rolle der geschilderten Person. ( vgl. die Erklärung von Roger Willemsen! ) Und was noch hinzukommt, diese so unterschiedlichen Einzelschicksale fordern den Leser, ebenfalls ob er will oder nicht, zum moralischen Urteil auf. Das heißt, man bejaht und billigt ein im Buch geschildertes Verhalten, man verneint und kritisiert es oder man wählt eine Mittelposition, eine Teils-teils-Bewertung. Damit sind die in der Literatur geschilderte Personen positive oder negative oder auch indifferente Verhaltensmuster für einen selbst.
Entsprechenes gilt natürlich auch für die in der Literatur geschilderten Situationen und gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Menschen leben, ja, viele zu ihrem Leidwesen leben müssen. Auch sie fordern den Leser zur kritischen Bewertung, also zur Sozialkritik auf.
( Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung, eine historische Voraussetzung für die politische Entwicklung in Richtung Demokratie im 18. und 19.Jahrhundert, u.a. in den in dieser Zeit gegründeten Literaturvereinen bei der Bewertung von Literatur eingeübt und in Anspruch genommen wurde. Dieses Recht auf das eigene Urteil wurde in der Folge dann für viele andere gesellschaftliche Bereiche eingefordert und durchgesetzt. ( s. J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit!)

Doch genug der Theorie! Hier ein konkretes Beispiel: Der Jüngling Clavigo in Goethes gleichnamigem Drama "CLAVIGO" hält um die Hand der jungen Marie B. an: Der Vormund derselben, Maries Schwager, erklärt, dass er sein Einverständnis erst geben könne, wenn Clavigo sich beruflich in eine Position gebracht hätte, die es ermöglichen würde, Marie ein ihrem Stand angemessenes Leben zu garantieren. Es vergehen sieben Jahre; Clavigo avanciert in dieser Zeit zum Archivarius des Königs, hat also inzwischen eine Position, die den Bedingungen für eine Heirat entsprechen würde. Aber inzwischen liebt er Marie nicht mehr und er kündigt ihr seine Heiratsabsicht auf. Erst jetzt kommt es im Drama zum ernsten Konflikt, zumal plötzlich Maries heißblütiger Bruder auftaucht und von Clavigo Rechenschaft fordert.

Die Kernfrage dieses Dramas und damit eine Frage für jeden Menschen in dieser Welt ist nun aber: Gibt es Situationen, wo ich mit meinem Verhalten dem Du gegenüber ( also einem anderen gegenüber ) mehr verpflichtet bin als mir selbst? Vorausgesetzt ist natürlich, dass Gleiches einander gegenübersteht, also Not gegen Not, Freiheit gegen Freiheit, Erfolg gegen Erfolg, Leben gegen Leben. Oder etwas anders formuliert: Welche Nachteile muss ich für mich selbst in Kauf zu nehmen bereit sein, um anderen welche Nachteile zu ersparen? Damit ist der Kern menschlicher Moral schlechthin berührt.

Hier noch ein anderes Beispiel, exemplifiziert durch das Brecht-Drama "DER GUTE MENSCH VON SEZUAN". Hauptfigur in diesem Stück ist Shen Tui, eine Frau irgendwo in China, die Mitleid mit jedem hat und deshalb auch von vielen aufgesucht und um Hilfe und Zuwendungen gebeten wird. Shen Tui kann nie nein sagen, merkt aber, dass sie auf diese Weise sich selbst ruinieren, d.h. total verarmen würde. Und somit kommt sie auf die Idee, die gute Shen Te für eine Zeitlang verreisen und ihre Geschäfte von ihrem hartherzigen Schwager Shui Ta verwalten zu lassen, so dass sie sich in dieser Zeit wirtschaftlich wieder erholen kann. In Wahrheit verkleidet sich die gute Shen Te in dieser Zeit in den bösen Shui Ta. Auf diese Weise kann sich Shen Te bzw. die als Shui Ta verkleidete Shen Te allmählich wieder sanieren, so dass sie irgendwann diesen Rollenwechsel wieder aufgeben kann und wieder als gute Shen Te Gutes tun kann, wohl wissend, dass sie eines Tages wieder eine Zeitlang Shui Ta werden muss.
Fazit dieses Brecht-Dramas: Menschliche Tugenden sind gesellschaftlich nur von Wert, wenn sie ein gewisses Maß nicht übersteigen. So kann lobenswerter Idealismus zu doktrinärer Utopie werden oder lobenswerte Toleranz zu einem kontraproduktiven Laissez-Faire, wodurch am Ende letztlich das Gegenteil von dem erreicht wird, was eigentlich erreicht werden soll.

Die 'schöne Literatur' - heute spricht man meistens von Belletristik - ist heutzutage sicherlich nicht mehr primär der moralischen Aufgabe verpflichtet, Gesellschaftskritik zu üben ( wie es der anonyme Schüler in dem Video darstellt ). Gesellschaftskritik leisten heutzutage wohl eher und vielleicht auch besser die Medien und die Sachliteratur. Die Belletristik hat aber immer noch jene Wirkung auf den Leser, die ihr schon die alten Griechen zugeschrieben haben: Sie solle nämlich Furcht und Mitleid hervorbringen. Furcht ist hier in dem Sinne zu verstehen, dass die in der Literatur dargestellten fragwürdigen oder eindeutig unmoralischen Verhaltensweisen der in den Texten geschilderten Negativ-Figuren dem Leser zur Warnung und Abschreckung dienen sollen fürs eigene Leben. Mitleid bedeutet, dass der Leser ein mitfühlendes Empfinden ( Empathie ) entwickeln soll für den oft unschuldig leidende Mitmenschen, um womöglich zur Solidarität, zum Engagement und zur Hilfe bereit zu sein. Zugegeben! Nicht alle Literaturtheoretiker sind überzeugt, dass gute Literatur diesen moralisierenden Effekt haben kann. Ich allerdings stehe auf der Seite Friedrich Schillers, der davon überzeugt war und diese seine Überzeugung auch mit seinen literaturtheoretischen Schriften ( 'Über den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten'; 'Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet' ) zu belegen versucht hat.



Beckedorf, Januar 2016   /   B. de Reese


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